Für viele kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland ist die digitale Transformation ein Drahtseilakt: Einerseits wächst der Druck, Prozesse zu modernisieren, innovative Dienstleistungen anzubieten und schneller auf Kundenwünsche zu reagieren. Andererseits nehmen regulatorische Anforderungen weiter zu – von Datenschutz über branchenspezifische Normen bis hin zu europäischen Vorgaben wie dem Data Act, der NIS2-Richtlinie oder der bevorstehenden EU-Verordnung zur Künstlichen Intelligenz. Gerade in regulierten Branchen wie unter anderem Gesundheit, Finanzen oder Bauwesen stellt sich die Frage: Wie lassen sich Innovation und Vorschriften unter einen Hut bringen?

Ein agiler Unternehmensansatz kann hier neue Wege eröffnen – vorausgesetzt, er wird intelligent in bestehende Strukturen integriert. Denn Agilität bedeutet nicht Chaos, sondern Anpassungsfähigkeit. Es geht nicht darum, Regeln zu umgehen, sondern darum, Handlungsspielräume zu erkennen und effektiv zu nutzen.

Agilität ≠ Regellosigkeit

Agilität im regulierten Umfeld ist in vielen Unternehmen noch mit Vorbehalten behaftet. Wer beispielsweise als MedTech-Unternehmen unter ISO 13485 arbeitet oder in der Finanzbranche MiFID-konforme Prozesse sicherstellen muss, verbindet mit agiler Arbeit oft fehlende Dokumentation, fehlende Prozesssicherheit oder ein vermeintlich unkontrolliertes Vorgehen. Doch das ist ein Missverständnis. Tatsächlich beruhen agile Methoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking auf Transparenz, klar definierten Rollen und einem hohen Maß an Eigenverantwortung – also genau jenen Prinzipien, die auch die Regulatorik fordert.

Ein zukunftsfähiger Ansatz liegt daher in der Kombination von Agilität mit strukturierter Compliance – häufig auch unter dem Begriff „Lean Compliance“ geführt. Ziel ist es, regulatorische Anforderungen effizient, nachvollziehbar und möglichst automatisiert zu erfüllen, ohne dabei Innovationsprozesse auszubremsen. So kann beispielsweise ein digital geführtes Kanban-Board in einem Planungsbüro gleichzeitig als Projektsteuerungsinstrument und als revisionssicheres Nachweissystem dienen. Ebenso lassen sich mit digitalen Tools wie Jira, Confluence oder spezialisierten QMS-Lösungen (Qualitätsmanagementsystemen) sowohl agile Entwicklungsschritte dokumentieren als auch Prüfpfade für externe Audits erzeugen.

Besonders deutlich zeigt sich das Potenzial agiler Ansätze in der modularen Prozessgestaltung. Dabei werden stabile, gesetzlich gebundene Prozesse (etwa Rechnungslegung, Zertifizierung, Datenschutz) klar von innovativen, flexiblen Elementen getrennt. So bleibt das „Kernsystem“ revisionssicher und regelkonform, während rundherum agil gearbeitet werden kann – etwa in der Entwicklung von Kundenportalen, der Einführung neuer digitaler Services oder der Optimierung interner Workflows. Diese Trennung erlaubt es, Innovationsvorhaben zügig umzusetzen, ohne gleichzeitig das gesamte System infrage zu stellen.

Gerade in stark regulierten Bereichen wie dem Gesundheitswesen, der Finanzbranche, dem Bauwesen oder dem digitalen Dienstleistungssektor entstehen durch digitale Prozesse neue Spielräume für flexible Ansätze.

So zeigt sich etwa im internationalen iGaming-Markt, dass Anbieter durch die Auswertung von Nutzerverhalten schnelle Auszahlungen als Erfolgsfaktor identifizieren können. Die besten Online Casinos mit schneller Auszahlung agieren mit Lizenzen unterschiedlicher Behörden. Die Umsetzung sder Zahlungsfunktionen erfordert eine enge Abstimmung zwischen Technik, Compliance und Kundenservice – ein typisches Einsatzfeld auch für agile, interdisziplinäre Teams.

Auch in der Medizintechnik oder im Bauwesen ermöglichen digitale Tools und strukturierte Rückkopplungsschleifen eine flexiblere Projektsteuerung, ohne dabei gesetzliche Vorgaben wie ISO-Normen oder die VOB zu verletzen.

Diese Beispiele zeigen, wie sich agile Arbeit dafür eignen kann, innerhalb klarer Rahmenbedingungen flexible und lernfähige Prozesse zu schaffen – und damit auch in regulierten Branchen schneller, kundenorientierter und resilienter zu agieren. Ob KMU oder global agierendes Unternehmen – wer in regulierten Märkten erfolgreich sein will, muss Wandel gestalten können. Agilität bietet hierfür einen erprobten Rahmen, der Struktur und Anpassungsfähigkeit vereint.

Regulatorik trifft Realität 

Auch gesetzliche Neuregelungen wie die NIS2-Richtlinie oder der Data Act bieten Anlass zur Einführung agiler Praktiken. So schreibt NIS2 unter anderem ein systematisches Risikomanagement und klar definierte Kommunikationsprozesse bei IT-Sicherheitsvorfällen vor. Ein agiles Unternehmen kann darauf reagieren, indem es funktionsübergreifende Security-Teams etabliert, die Bedrohungen in kurzen Sprints analysieren und Gegenmaßnahmen priorisieren. Der Data Act verpflichtet Unternehmen dazu, Maschinendaten fair, sicher und standardisiert verfügbar zu machen – ein idealer Anlass, agile Rollen wie den „Data Product Owner“ einzuführen, der zwischen Technik, Business und Recht vermittelt.

Auch die EU-weite Einführung der E-Rechnungspflicht im B2B-Bereich ab 2025 kann als Katalysator für agiles Vorgehen dienen. Statt die Umstellung als starres IT-Projekt aufzusetzen, können Unternehmen mit einem iterativen Rollout beginnen – etwa indem zunächst interne Abläufe (z. B. zwischen Einkauf und Buchhaltung) digitalisiert und getestet werden, bevor externe Partner eingebunden werden. Agile Methoden helfen dabei, Rückmeldungen schnell umzusetzen und technische wie organisatorische Stolpersteine flexibel zu adressieren.

Keine Einschränkung, sondern ein Wettbewerbsvorteil

Entscheidend für den Erfolg ist jedoch nicht allein die Methode, sondern die Haltung. Wer Agilität in regulierten Kontexten einführen will, muss seine Teams befähigen, Verantwortung zu übernehmen und eine offene Kommunikationskultur zu etablieren. Gleichzeitig brauchen auch Führungskräfte ein neues Rollenverständnis – weg vom klassischen „Kontrolleur“, hin zum Ermöglicher („Servant Leader“). Gerade in mittelständischen Unternehmen kann das ein kultureller Kraftakt sein – aber einer, der sich langfristig auszahlt.

Regulierungen und Agilität müssen kein Widerspruch sein. Im Gegenteil – wenn Unternehmen bereit sind, Spielräume zu erkennen und gezielt zu nutzen, können sie agiler und gleichzeitig regelkonformer werden. Die Kunst liegt darin, Strukturen so zu gestalten, dass sie beides ermöglichen: Verlässlichkeit und Anpassungsfähigkeit. 

Quellen:

https://www.welt.de/Advertorials/sparkasse/digitalisierung-mittelstand/article250580280/Riesen-Unterschiede-Digitalisierung-Wo-deutsche-Mittelstaendler-stehen.html

https://hbr.org/2018/05/agile-at-scale

https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Regulierte-Wirtschaft/NIS-2-regulierte-Unternehmen/nis-2-regulierte-unternehmen_node.html

https://www.iao.fraunhofer.de/de/kompetenzen/arbeitsorganisation/agile-organisationen.html

https://www.iso.org/standards/popular/iso-9000-family

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:32022L2555

https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/european-approach-artificial-intelligence

https://www.iso.org/standards/popular/iso-9000-family

https://www.secjur.com/blog/nis2-anforderungen

https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Regulierte-Wirtschaft/NIS-2-regulierte-Unternehmen/nis-2-regulierte-unternehmen_node.html

https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/factpages/data-act-explained

https://eticor.com/de/blog/eu-data-act

https://www.srd-rechtsanwaelte.de/blog/data-act-regelungen

Image: https://www.pexels.com/de-de/foto/hande-menschen-geschaft-business-7731351/

Author

Hannah hat bis 2017 digitales Marketing studiert und schrieb ihre Masterarbeit über die Digitale Transformation in Unternehmen mit Betreuung durch Agile Unternehmen. Seitdem schreibt sie regelmäßig Gastartikel und unterstützt das Projekt. Hannah arbeitet seit 2018 als Organisationsentwicklerin in einem großen DAX-Konzern.

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