Das 2025 anstehende Gesetz zur Stärkung der Barrierefreiheit ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Inklusion und Teilhabe. Experten wie Nina Cisneros Arcos von Orelon, Dolmetscherin und Unternehmerin für inklusive Kommunikation, zeigen auf, wie dieses Gesetz nicht nur allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sondern auch Unternehmen und Behörden in Zeiten des Fachkräftemangels den Zugang zu erweiterten Kund:innen- und Talentpools eröffnet und so eine nachhaltige und vielfältige Arbeits- und Geschäftswelt gestaltet.
Besondere Anforderungen an Benutzeroberflächen und Informationsstellen
Einen wichtigen Meilenseiten im Sinne der Inklusion setzt die Politik mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, das am 28. Juni 2025 in Kraft tritt. Das Gesetz, das die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anforderungen an die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen regelt, soll Menschen mit Behinderungen eine intensivere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am Arbeitsmarkt ermöglichen.
Demnach wird ab Mitte 2025 die Barrierefreiheit aller Produkte und Dienstleistungen, die von der Privatwirtschaft angeboten werden, zur Pflicht. Dies betrifft beispielsweise die Hardware von Computern und Selbstbedienungsterminals im Einzelhandel und bei Finanzdienstleistern. Ebenfalls müssen Fahrkartenautomaten im öffentlichen Nahverkehr und Check-in-Terminals an Flughäfen und Bahnhöfen den Anforderungen der Barrierefreiheit entsprechen. Auch elektronische Lesegeräte und Anwendungen auf Smartphones, einschließlich Websites, müssen barrierefrei sein.
Die Umsetzung der Barrierefreiheit wird primär durch die „Struktur der digitalen Barrierefreiheit“ ermöglicht. Dazu gehört beispielsweise die Implementierung von Software, die nach den Standards für barrierefreies Webdesign, den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), gestaltet ist. Für ein durchgängiges Vorgehen ist auch die Einhaltung der Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) zu berücksichtigen. Barrierefreie Kommunikation wird darüber hinaus durch die Zugänglichkeit von Intra- und Internet sowie durch barrierefreie Dokumente wie PDFs unterstützt. Alle genannten Elemente sind Bestandteil einer umfassenden barrierefreien Kommunikation.
Letztlich wird das Gesetz die Kommunikation zwischen Unternehm:innen, Behörden oder Verbänden auf der einen Seite und Privatperson:innen, Mitarbeiter:innen oder Endverbraucher:innen auf der anderen Seite im Sinne einer weitreichenden Inklusion radikal verändern.
Weitsicht ist besser, als das Nachsehen zu haben
Diese gesetzliche Neuheit wird insbesondere für Unternehmen eine Herausforderung darstellen, die dem Thema Transformation bisher zu wenig Beachtung geschenkt haben. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz fordert, dass sie beispielsweise digitale Transformation so umsetzen, dass Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen daran teilhaben können. Zunehmend gibt es zukunftsorientierte Unternehmen, die sich nicht ausschließlich auf öffentliche Initiativen verlassen und nicht auf staatliche Sanktionen warten.
Sie erkennen die Chancen, die in der Vielfalt ihrer Mitarbeiter:innen und in der Barrierefreiheit liegen und fokussieren nicht ausschließlich auf die damit verbundenen Kosten oder Herausforderungen. „Wenn Benutzeroberflächen inklusiv gestaltet sind, profitieren alle Mitarbeitenden davon, unabhängig von ihren individuellen Fähigkeiten. Es ist an der Zeit, dass wir Barrieren abbauen und eine produktive Arbeitsumgebung für alle schaffen.“ äußert Mella Hambrecht, Dolmetscherin bei Orelon. Als blinde Mitarbeiterin kennt sie die Herausforderungen des Büro-Arbeitsalltags mit wenig barrierefreien Softwares und Benutzeroberflächen leider zu gut.
Unternehmen und Organisationen, die sich bereits heute für die Barrierefreiheit ihrer Produkte, Dienstleistungen und Websites einsetzen und diese entsprechend gestalten, prägen die Zukunft entscheidend mit. Sie unterstützen alle, die auf digitale Barrierefreiheit angewiesen sind, setzen ein starkes Signal für Inklusion und erlangen gleichzeitig einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerber:innen.
Beinahe paradox: Digitale Hindernisse in Zeiten der Digitalisierung
Trotz Fortschritten bei KI, VR & AR, Metaverse und 5G bleibt der Zugang zu Wissen und Dienstleistungen für Millionen Menschen in Deutschland, insbesondere für Menschen mit Behinderungen, eingeschränkt. Die digitalen Hürden im privaten und beruflichen Bereich sind für sie nach wie vor zu hoch und die zunehmende Digitalisierung von Dienstleistungen hilft ihnen wenig.
Menschen im fortgeschrittenen Alter, Personen mit Seh- oder Hörbehinderungen und Mitmenschen, die nicht gut Deutsch sprechen, sind heute auf barrierefreie Webseiten von Behörden, Suchmaschinen und Online-Shops angewiesen. Veröffentlichte Studien der Aktion Mensch zeigen auf, dass 10 % der Bevölkerung auf digitale Barrierefreiheit gar nicht verzichten können, während sie für über 30 % notwendig ist und alle sie als hilfreich empfinden.
Potenziale der Barrierefreiheit für Unternehmen und Kunden
Zahlreiche Unternehmen übersehen die unzähligen Talente in Gruppen, die erst durch Barrierefreiheit sichtbar werden. Da Digitalisierung alle Lebensbereiche durchdringt, eröffnet Inklusion auch neue Rekrutierungsmöglichkeiten. Das gilt auch nicht nur für den Büroalltag, sondern auch für Bildungsveranstaltungen und öffentliche Events. Nur durch eine inklusive Verständigung kann die Vielfalt gewährleistet werden, welche „Diese Vielfalt und Flexibilität macht den Beruf des Dolmetschers so schön und spiegelt sich in vielen Aspekten unserer Arbeit wider“, unterstreicht Nina Cisneros Arcos.
Barrierefreie Alternativen erschließen Millionen potenzielle Kund:innen und ein Reservoir an Fachkräften, bereit, trotz erschwerter Umstände Höchstleistungen in einem inklusiven Arbeitsumfeld zu erbringen. Unternehmen und Behörden, die Barrierefreiheit für Kund:innen und Mitarbeiter:innen prioritieren, bauen auf eine zukunftsfähige Basis, fördern die Teilhabe vieler Menschen und setzen Maßstäbe in puncto Diversität.
Image: Barrierefreiheit ist nicht lediglich rollstuhlgerecht – auch in der Verständigung und Digitalisierung müssen Barrieren abgebaut werden. Bild: Freepik